Teamwork

Ehrgeiz, Erschöpfung und Emotionen am Stoneman Dolomiti


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Wann?23. und 24. Juni 2021 
Wo?Südtirol/Österreich: Sexten, Toblach, Marchkinkele, Winnebach, Sillian, Leckfeldalm ·
Sillianerhütte, Passo Silvella, Padola, Rotwand, Sexten
Wie lange?> 120 km, 2 Tage
Wie hoch?> 4000 Höhenmeter

Ich bin Einzelkind. Kein verwöhntes, sondern eines dieser dickköpfigen, einzelkämpferischen Spezies. "I lelba" – Kleinkindsprache für "ich selber" – war einer meiner ersten Sätze und sollte klar stellen, dass ich dieses und jenes selber machen, ohne Hilfe schaffen möchte. 

Als Christoph zum gefühlt hundertsten Mal vorm noch so kleinen Anstieg absteigt und sich nach meinem Bike umdreht, will ich ausnahmsweise nichts selber machen. Ich bin außerdem zu erschöpft, um zu protestieren. "Danke". Ich nehm jede Hilfe an, die ich kriegen kann, lass ihn mein Bike schieben und schiebe mich selber Zentimeter um Zentimeter höher ran an den in Gottes Namen hoffentlich letzten Checkpoint dieses Tages und dieser Tour. Selbst während des Gehens muss ich immer wieder stehen bleiben um nach Luft zu ringen. Mein Brustkorb fühlt sich an, als hätte man die halbe Lunge entnommen. In den Ohren rauscht das Blut. "Du brauchst dich nicht dauernd bedanken. Das ist Teamwork", betitelt Christoph die Situation. Ich frag, mich, was ich zu diesem Team eigentlich beitrage. Okay, ohne mich und meiner Vorliebe für Mehrtagestouren stünde er als Bikepark-Springinkerl vermutlich heute nicht hier an der Rotwand Station in den Dolomiten und würde nicht seine Stoneman-Starterkarte mit dem letzten von fünf Stempeln durchstanzen. 

Es ist ziemlich genau 8 Uhr abends, als wir diesen letzten Checkpoint erreichen. Vor knapp 48 Stunden waren wir uns noch verdammt sicher, unsere Trophäen locker bis 20 Uhr am folgenden Tag abholen zu können. "Sollt sich ausgehen", scherzen wir in Richtung Roland Stauder, Mr. Stoneman himself, der uns am Infopoint in Sexten Schneefelder in der Karte markiert. Seine Einschätzung zum Thema Schnee und Strecke genieße ich als Flachlandindianerin mal lieber mit Vorsicht. "Viel Spaß", ruft er uns nach, als wir an diesem Mittwochmorgen Ende Juni die ersten 10 Kilometer entlang des milchigen, von Schneewasser fast überlaufenden Sextener Bachs nach Toblach rollen. 


Von dort aus geht es nun fast 25 Kilometer aufwärts. Wir treiben in einer Mischung aus Wanderern, Kinderwagen, Dreiachser voller Schotter und jeder Menge E-BikerInnen stetig dahin zur Silvesteralm, wo die meisten von ihnen ihr Tagesziel erreicht zu haben scheinen. Für uns gehts jetzt jedoch erst los mit dem, was wir Biken nennen. Eine Panzerstraße aus dem ersten Weltkrieg führt Kehre um Kehre auf über 2500 Meter auf Marchkinkele im Pustertal, wo selbst Ende Juni die Marchhütte noch wegen Schnees geschlossen ist.

Christoph tritt locker flockig die grobe, historische Panzerstraße bergauf, während ich schon jetzt eine ungewohnte Schwere und Trägheit in meinen Beinen spüre. Es rattern die Gedanken, woran es liegen könnte, doch am Ende sind alle Gründe und Ausreden irrelevant. Wir müssen hoch! 

Der Blick auf die Drei Zinnen und zig andere Gipfel der Dolomiten ist jedenfalls ein guter Grund, regelmäßig Pausen zu machen – um zu essen und zu trinken und um diese Momente festzuhalten. In der Erinnerung und am Smartphone. 

Es ist schon fast 14 Uhr, als wir den ersten und für heute auch einzigen Checkpoint erreichen. Rund um uns nichts anderes, als Gipfel, Schneefelder, Felsen. Und ein mäandernder Trail, der sich aus einem dieser Schneefelder heraus durch Wassertümpel und Bäche hindurch ins Tal windet.

Keine Zusammenfassung kann den nächsten 40 Minuten gerecht werden, als ich 

  • zum ersten Mal ein flauschiges, frei lebendes Murmeltier sehe (noch nicht wissend, dass am nächsten Tag hunderte vorbeihuschen)
  • bis Drei zähle und samt Bike-Rucksack zwei Meter über einen Bach springe
  • denselben Weg wie das Wasser, nämlich den Trail, nehme und rauschend durch das Schmelzwasser rolle 
  • noch mehr Bäche durchquere 
  • mit den Zehen im Schneewasser meiner Bikeschuhe bade (klingt besser, als von durchnässten Schuhen zu sprechen, stimmt's) 
  • Christoph anstrahle und er zurück grinst und wir wissen, dass das eine der epischsten Passagen dieser Tour sein wird. 

Schon seit dem Frühstück quäl ich mich, das zu tun, was schon meien Großeltern, Eltern und jetzt auch noch Christoph zu mir sagen: "Iss ordentlich!" Also esse ich gesalzene Butterbrote und stibitze ein paar Stück Käse, während ich erfolg- weil empfanglos versuche, uns auf der Leckfeldalm einen Schlafplatz für die Nacht zu organisieren.

Am Radweg nach Sillian hebt Philipp ab, verspricht uns Betten und Abendessen – auch wenn's spät wird. Und das sollt's noch werden. 7 Kilometer steht am Wegweiser im Tal. Die knapp 900 Höhenmeter erwähnt mal wieder niemand. 2226 sollen's heute in Summe werden. Ich fahre Meter um Meter, immer bis zu den nächsten 100 Höhenmetern, um eine erlösende Pause einzulegen. Christoph fungiert als eine Mischung aus Motivationscoach und Krankenpfleger. Mir tut's leid für ihn, weil ich ihn so dermaßen ausbremse. "Teamwork", raunt er meinen Entschuldigungen entgegen. 

Ich fahre langsamer, als er schiebt. Und er schiebt auch nur deshalb, weil sich sein Sitzfleisch über jede freie Minute freut. In der letzten Serpentine sitzen wir beide nochmal auf. Wir freuen uns fast über den Regen, der endlich etwas kühlt und rollen just in dem Moment unter's Hüttenvordach, als der erste Donner grollt. 

Heiß geduscht (auf Hütten eine luxuriöse Seltenheit), mit der Gewissheit eines echten Bettes (kein Matratzenlager) und einer Portion von Philipps Spätzle mit Gorgonzolasauce vor uns auf dem Teller (im Verhältnis 1/4 für mich, ¾ für Christoph) bäumt sich ein Regenbogen vorm Fenster auf und erklärt das Gewitter für beendet. 

Ich werf Christoph noch meine Muskelsalbe auf die Bettdecke und bin schon fast im Träumeland, als er sich ins Zimmer schleppt. Möge es eine erholsame Nacht werden.

Der nächste Morgen startet zu Fuß. 500 Höhenmeter – angesichts der Steilheit und des noch folgenden Tagesprogramms fast ausschließlich schiebend – liegen erst mal vor uns. Christoph mimt den Gentlemen und schiebt immer wieder auch mein Bike. Ich widerspreche ausnahmsweise nicht (– wer mich kennt, weiß um diese raren Momente –) und nehm die Erleichterung dankend an. Der Wandertag ist auch so schon anstrengend genug.

Bis 11 wollte ich samt Fotopausen und Drohneaufnahmen auf der Sillianerhütte sein. Um 5 vor 11 legen wir die Bikes auf den Hüttenvorplatz, während uns der einsetzende Sturm ins Innere treibt. Zeit für eine Stärkung – oder wie ich es nenne: Das letzte Abendmahl. Da darfs dann auch schon mal eine Sachertorte sein. Denn vor uns wartet die Demutpassage – Herzstück des Stoneman Dolomiti. Während wir von Rolands Auskunft wissen, dass die noch verbleibenden Schneefelder passierbar sind, raten uns entgegenkommende Wanderer dringend davon ab. Als Christophs Handschuh am Startpunkt der Demutpassage vom Sturm hinab geweht wird, wird klar, dass dort niemand von uns landen will. Hier ist nicht der richtige Zeitpunkt für Versuche und Spielereien. Wir sind uns einig: Konzentration, keine Experimente.

Sowohl Anspannung als auch Motivation sind deutlich höher als unsere Geschwindigkeit. Immer wieder zwingen uns mehr und weniger steile Schneefelder zum zaghaften Schieben, wir sinken in den Junischnee, die Zehen baden schon wieder … 

"I lelba", kommt heut nicht von mir, wenn es mal wieder gilt, das Bike über eine Felsstufe hochzuheben. Höchstens ein "Danke", wenn Christoph nach meinem Lenker greift. 

Demut ist in der Demutpassage auch angesichts der Sturms durchaus angemessen. Dass mich der Sturm immer wieder seitlich versetzt und sogar zum Absteigen zwingt, überrascht keinen von uns. Dass er sogar Christoph mit einem Gesamtgewicht von 120 kg verbläst, hingegen schon. Die Zeit drängt. Hinter uns drängeln sich die Wolken dichter und dunkler. Gewitterwahrscheinlichkeit am Abend – der Wetterbericht hat es prophezeit. Zwischen Schneefeldern, Flechten und hunderten Murmeltieren verliert am Grat auf 2500 Metern Seehöhe ein Gewitter jegliche romantische Vorstellung.

Was im Höhenprofil der gedruckten Karte hangparallel wirkt, ist in Wahrheit eine unrhythmische Abfolge von Anstiegen und wenig erholsamen Abfahrten, die noch immer von Schneefeldern, Felsstufen und Geröllbrocken auf senkrecht wirkenden Pfaden unterbrochen wird. Meine Gedanken sind genauso leer wie meine Blutzuckerreserven. Auch an Christophs Stimmung zehrt diese Etappe und wir haben noch immer das Gewitter im Rücken. 

Nach dem Passo Silvella sind wir zunehmend sicher, dass uns der Sturm in die Hände spielt und das Gewitter zumindest nicht auf uns zu peitscht. Wir packen unsere Riegel und Powergels aus, setzen uns auf die von der Sonne erwärmten Felsen und trauen uns vorsichtig zu hoffen, dass es demnächst endlich mal bergab geht.

Und das tut es! Gefühlt endlos, gemessen 10 Kilometer. Am Grat entlang, hunderte Gipfel als Zuschauer am Wegesrand. Meine Muskel haben mir verziehen, wir freuen uns auf Geschwindigkeit, technische Passagen und die kleinen und größeren Überraschungen am Trail. Die grünsten Wiesen weit und breit nehmen uns nach Stunden im kargen Hochgebirge auf, bis wir breit grinsend in den verheißungsvoll duftenden Föhrenwald eindringen. So riecht Freiheit.

Im Glauben in Padola zu sein irren wir auf der Suche nach dem vierten Checkpoint durchs Bergdorf Casamazzagno. Checkpoint finden wir dort natürlich keinen, dafür einen Brunnen, an dem wir unsere Flaschen und Trinkblasen im Rucksack füllen und unsere Essensvorräte abzählen. Jeder hat noch zwei mehr oder weniger wertvolle Riegel im Gepäck (und ja, ein Pickup kann auch Leben retten). Sollte für die letzten 30 Kilometer reichen. 

Apropos "die letzten 30 Kilometer". Ein Prozentzeichen in der Karte lässt erahnen, dass es am Weg zum letzten Checkpoint – milde ausgedrückt – saumäßig steil wird. Ich weiß nicht, woher diese Reserven noch nehmen. Aber ich weiß, dass ich das Abenteuer Stoneman in silber, also in 2 Tagen, schaffen will. "Glaubst, schaffen wir's?" Ich frage, weil ich es hören muss. "Ja, klar schaffen wir das". 

Vom Kreuzbergpass sind's nur noch 300 Höhenmeter. Ich vergleich es mit diversen Anstiegen meiner Hausrunden. 300 Höhenmeter müssen doch irgendwie zu schaffen sein. "Wenn nicht, gibst du mir deine Karte und ich stempel sie ab". Christoph weiß, dass das mein Stolz niemals erlauben würde."Na soweit kommt's noch", press ich hervor. Ich ahne, dass er das gesagt hat, um mich zu provozieren und mich verdammt noch mal diesen Berg hoch zu bekommen.

Da steigt er also mal wieder vom Rad und greift nach meinem Lenker, weil sich vor uns eine Wand aus Gestein und Geröll aufbäumt und sich großspurig Straße nennt. Ich starr auf meine Schuhspitzen und keuche hinter Christoph und unseren beiden Bikes her. 

Für Freudensprünge an der Weggabelung Richtung Checkpoint Rotwand ist keine Kraft mehr da. "Eh schön", mein poetischer Kommentar zur abendlich beleuchteten Felswand, an deren Fuß der eiserne Stoneman Aufsteller mit der letzten Stempelzange geduldig auf uns wartet. Dann fliegen wir auf der Rodelstrecke ins Tal. 

20:15 Uhr. Die Infostelle Stoneman hat seit 15 Minuten geschlossen. Vor der Blechtüre fotografieren wir unsere Stempelkarten und hängen uns wie bei einer Siegerehrung die Schlüsselbänder mit den Starterkarten gegenseitig um den Hals. Ich bin unglaublich erschöpft und unbeschreiblich erleichtert, hier zu sein – ohne Verletzung, ohne Gewitter, ohne Pannen. Und ich weiß, "i lelba" hätte es alleine in der Form diesmal nicht geschafft.

Im Hotel Stobl, wo auch mein Bus parken durfte, genießen wir noch einmal die Südtiroler Gastfreundschaft. Verschwitzt und ausgehungert findet die zuvorkommende Servicedame für uns ein Plätzchen und serviert zwei Gerichte aus der Abendkarte, die eigentlich den Hotelgästen vorbehalten ist. Dann übernimmt Christoph für die fünfstündige, nächtliche Heimreise das Steuer. Ich roll mich auf der Doppelsitzbank der Beifahrerseite ein, bin froh weder treten noch denken zu müssen und träum von den speckigen Murmeltieren, dem strahlend blauen Enzian und den Tümpeln aus Schmelzwasser, in denen sich die schneeweißen Gipfel spiegeln. 

Am Nachmittag des nächsten Tages werfe ich von der Couch aus einen Blick auf die digitale Finisher Liste des Stoneman Dolomiti, Silver, 2021. Über unseren beiden Namen steht "Team Bike-Passion". Ja, das waren wir: ein echt gutes Team. 


Danke

zu allererst und zum letzten Mal (versprochen) an Christoph. [Ohne di wär's echt a weng zach wordn.]

an Roland Stauder, der uns mit seinen Starter-Gutscheinen ins herrliche Südtirol gelockt und nicht enttäuscht hat. 

das Hotel Strobl in Sexten und sein Team, das uns außergewöhnlich herzlich und gastfreundlich bewirtet hat. 

Philipp von der Leckfeldalm, der eine so herrlich heiße Dusche installiert hat.

und an alle lieben, lustigen, hilfsbereiten Menschen unterwegs (insbesondere den Herrn Höflich, der – schon namentlich erblich belastet – auch mal mein Bike geschoben hat).


Abenteuerlust? 

Wenn auch du das Abenteuer Dolomiten erleben willst, dann meld dich! Christoph und ich haben die Strecke erprobt und führen ambitionierte BikerInnen demnächst sicher und top organisiert über die schönsten Gipfel und feinsten Trails! 

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PS: Wie du dich auf Mehrtagestouren perfekt vorbereitest, erfährst du in meinem Buch


Showreal Stoneman Dolomiti

Die schönsten Momente und epischsten Trails hat Christoph verfilmt …